Ist MS vererbbar?

Warum betrifft es gerade mich?

MS- Betroffene stellen sich oftmals die Frage, welche Faktoren und Ursachen dafür verantwortlich sind, dass eine kleine Gruppe von Menschen innerhalb der Bevölkerung an Multipler Sklerose erkranken und andere eben nicht. Die Antwort wird in der Variation der genetischen „Ausstattung“ ethnischer Gruppen und speziell einzelner Personen vermutet. Gene steuern bekanntlich alle biologischen Abläufe im Körper des Menschen, welche Rolle sie allgemein für das Auftreten chronischer Erkrankungen spielen, ist derzeit Gegenstand der Gen- Forschung.

Die Genetik (Griechisch geneá Abstammung) oder Vererbungslehre ist ein Teilgebiet der Biologie und beschäftigt sich mit dem Aufbau und der Funktion von Erbanlagen („Genen“) sowie mit deren Weitervererbung. Vererbung ist die Weitergabe von Erbinformationen von Generation zu Generation. Diverse Erkrankungen, Behinderungen und Besonderheiten sind nicht im Sinne einer klassischen Erbkrankheit erblich, sondern ihr Auftreten kann durch eine (mitunter familiäre) genetische Erkrankungsdisposition (Veranlagung, Anfälligkeit) bedingt sein.

Multiple Sklerose ist eine komplexe, durch viele Faktoren beeinflusste Erkrankung, als Ursache wird schon seit vielen Jahren das Zusammenwirken von (genetisch bedingter) Veranlagung und Umweltfaktoren vermutet. Für MS-Betroffene sind in Zusammenhang mit Genen folgende Fragen von Bedeutung:

  • Wie hoch ist das Risiko für die Nachkommen einzuschätzen, ebenfalls an MS zu erkranken?
  • Wie erklärt man sich den Einfluss der Gene auf die Erkrankung und kann die Entschlüsselung der Gene dazu beitragen, die Erkrankung zu heilen?
  • Ist es zukünftig möglich, durch Untersuchung der Gene das individuelle Erkrankungsrisiko und bei bestehender Erkrankung die Prognose zuverlässig einzuschätzen?
  • Ergeben sich zukünftig neue Therapiemöglichkeiten durch eine medikamentöse Beeinflussung der Gene?

Worauf basiert nun die Annahme, dass die Veranlagung eine Rolle spielt und wie ist das Erkrankungsrisiko für die Nachkommen einzuschätzen?

Über lange Zeit wurde beobachtet, dass blutsverwandte Familienmitglieder von MS-Betroffenen, verglichen mit dem spontanen Auftreten der Erkrankung, ein höheres Erkrankungsrisiko haben. In Mitteleuropa liegt das MS-Risiko in der Gesamtbevölkerung bei etwa 0.1 %, d.h. jeder tausendste Einwohner erkrankt im Laufe seines Lebens an MS.

Ein eineiiger(also ein zu 100 % genetisch identischer) Zwilling eines MS-Erkrankten hat ein MS-Risiko von 25 %, welches gegenüber dem der Gesamtbevölkerung entsprechend 250-fach erhöht ist. Ein zweieiiger Zwilling oder auch andere Geschwister eines MS-Erkrankten ist zu 50 % genetisch identisch (genauso wie ein leibliches Kind eines MS-Erkrankten) und hat ein MS-Risiko von 3 %, das gegenüber dem der Gesamtbevölkerung 30-fach erhöht ist. Diese Zahl zeigt aber auch, dass eine 97 %ige Chance besteht, keine MS zu bekommen.

Halbgeschwister eines MS-Erkrankten sind zu 25 % genetisch identisch und weisen ein MS-Risiko von  1 % auf, noch immer 10-fach erhöht gegenüber dem der Gesamtbevölkerung.

Bereits in den 70iger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde ein Zusammenhang zwischen Multipler Sklerose und Genen, welche die Funktion der Immunzellen (Lymphozyten) kontrollieren, entdeckt. Diese Gene nennt man HLA-Gene. Wer in seinen Genen den Marker HLA-DR2 besitzt, hat ein MS-Risiko von 0.2 bis 0.4 %,  also 2- bis 4-fach erhöht.

Wie erklärt man sich den Einfluss von Genen auf die Erkrankung ?

Die unterschiedliche „Anfälligkeit“ für komplexe Erkrankungen (wie oben aufgelistet) ist eine Konsequenz der Mannigfaltigkeit der Gene von Individuen. Gene beinhalten Informationen, welche unter anderem für die Produktion von Proteinen (Eiweißstoffe) notwendig sind. Proteine sind Komponenten aller lebenden Zellen. Einige werden als „Baumaterial“ oder als Energiequelle genutzt, andere als  Botenstoffe, wieder andere erkennen und zerstören Bakterien und Viren. Spezielle Proteine können auch die Aktivität von Genen und damit die Produktion anderer Proteine steuern.

Im Falle von Multipler Sklerose ist anzunehmen, dass nicht die „fatale Strukturveränderung“ eines einzigen Proteins, sondern geringfügige Änderungen der Struktur und/oder Funktion einer Reihe wechselwirkender (interagierender) Proteine vorliegt.

Geringfügig veränderten Proteine können  sowohl die reguläre Funktion von Immunzellen, als auch den Grad der (schädlich wirkenden) Verletzbarkeit sowie der Regenerationsfähigkeit von Zellen des Rückenmarkes und des Gehirns ungünstig beeinflussen. Wenn sich nun das sonst für die Abwehr von Erregern so wichtige Immunsystem gegen körpereigene (durch die Wirkung von Genen geringfügig veränderte) Strukturen richtet und Schäden an den betroffenen Organen verursachen, spricht man von einer Autoimmunerkrankung.

Zusätzliche Umweltfaktoren spielen im Falle von Multipler Sklerose jedoch ebenfalls eine entscheidende Rolle!

Gibt es Beispiele für das Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren?

Laut aktuellen wissenschaftlichen Hypothesen könnte ein Zusammenhang zwischen Sonnenexposition in der Kindheit, Vitamin D Stoffwechsel und der Veranlagung, an Multipler Sklerose zu erkranken, bestehen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei Vitamin D, welches in der Haut unter UV- Licht Bestrahlung produziert und durch Bindung an spezielle Proteine (sogenannte Vitamin- D Rezeptorproteine) aktiviert wird. Es ist bekannt, dass Vitamin D neben der Wirkung auf den Knochenstoffwechsel auch einen bremsenden Effekt auf die Reaktion der Immunzellen ausübt.

Durch den Einfluss von Genen können Varianten dieser Vitamin- D Rezeptorproteine auftreten, dadurch kann das Ausmaß der Nutzung des zur Verfügung stehenden UV-Lichtes und damit die biologische Wirkung von Vitamin D individuell variieren. Eine verminderte Sonnenexposition im Kindesalter sowie erniedrigte Vitamin D- Serumspiegel gehen mit einem erhöhten Risiko im späteren Leben eine MS zu entwickeln einher (und umgekehrt).

Bei einem für den Großteil der Bevölkerung in mehr oder weniger gleichem Ausmaß wirksamen Umweltfaktor (UV-Bestrahlung) kann somit eine individuell geringfügig abweichende  Gen-Ausstattung (Veranlagung) zum Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken, beitragen.

Möglicherweise erklärt sich durch diese Zusammenhänge (teilweise) auch das MS-typische geographische Verteilungsmuster mit deutlich höherem Anteil an Erkrankten pro 100 000 Einwohnern in Nordeuropa verglichen mit südlichen Regionen Europas („Nord-Süd Gefälle“). Das niedrige Vorkommen der Multiplen Sklerose bei traditionell (hoch im Norden) lebenden grönländischen Inuit (Eskimos) wird übrigens mit deren Vitamin D- reicher Ernährung erklärt.

Neben der möglichen Auswirkung des Umweltfaktors „Sonne“ werden seit langem auch andere Umweltfaktoren – speziell Virusinfektionen in der Kindheit – als Triggerfaktoren für das Auftreten von Multipler Sklerose diskutiert. Auch hier lässt sich ein Zusammenhang mit den Genen vermuten. Die Proteinbestandteile des Myelins (und damit dessen Struktur) werden nämlich durch Gene bestimmt. Immunzellen erkennen und eliminieren einen Erreger (Virus), dessen Proteinbestandteile denen des Myelins ähneln. Durch Öffnung der Blut- Gehirn- Schranke im Rahmen einer Infektion gelangen diese Immunzellen auch in das Zentralnervensystem (Gehirn/Rückenmark) und attackieren dort nun „irrtümlich“ körpereigene myelinhältige Zellen. Dies wird auch als Kreuzreaktion bezeichnet. Der überzeugende Nachweis eines spezifischen, diese Kreuzreaktion auslösenden Erregers, konnte bisher jedoch nicht erbracht werden.

Welche Gene gilt es in Zusammenhang mit Multipler Sklerose genauer zu studieren? (insbesondere in Hinblick auf verbesserte Möglichkeiten der Prognose und Therapie)

Die Erbsubstanz eines Menschen beinhaltet ca. 30 000 Gene, für lediglich 5-10 Gene wird aktuell ein Zusammenhang mit der Veranlagung, an Multipler Sklerose zu erkranken, vermutet. Diese zu finden gleicht der berühmten Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen, ein in den letzten Jahren zunehmendes Wissen über die Erkrankung und Fortschritte der Genforschung helfen jedoch der Wissenschaft, das Augenmerk auf gewisse Gruppen von Genen zu fokussieren.

Im Zentrum des Interesses steht die HLA- C Gengruppe, welche Proteine im Körper steuert, die wiederum Immunzellen („natürliche Killerzellen“) beeinflussen. Diese Zellen bekämpfen Viren und Krebszellen, aktuelle Forschungen weisen darauf hin, dass sie auch eine schützende Rolle bei MS spielen können.

Zusammenfassung:

  • Insgesamt wird die MS als eine durch Umweltfaktoren verursachte Erkrankung angesehen, die Menschen mit einer genetisch bedingt erhöhten MS-Empfänglichkeit betrifft.
  • Von einer echten Erbkrankheit kann bei der MS allerdings nicht gesprochen werden, es gibt auch nicht „das MS-Gen“! Als Ursache für die Veranlagung zur Erkrankung werden aktuell „Multiplikationseffekte“ durch das Zusammenwirken mehrerer geringgradig gegenüber der Norm veränderter Gene vermutet.
  • Die Zahl der beteiligten Gene wird  zwischen 5-10 geschätzt, besonderes Interesse gilt der HLA-C Gengruppe. Diese Gengruppe steuert Proteine, die wiederum Immunzellen beeinflussen.
  • Die Art der Umweltfaktoren ist ebenfalls noch nicht exakt aufgeklärt, diskutiert werden „Kreuzreaktionen“ auf verschiedene Viruserkrankungen, Ernährung sowie Abweichungen im Vitamin D Stoffwechsel auf der Basis von Variationen der Gene. Vitamin D wird beim Menschen hauptsächlich durch Sonneneinstrahlung in der Haut gebildet. Eine verminderte Sonnenexposition im Kindesalter sowie erniedrigte Vitamin D- Serumspiegel gehen mit einem höheren Risiko im späteren Leben eine MS zu entwickeln einher.
  • Inwieweit durch die Erkenntnisse der Gen-Forschung  zukünftig eine Heilung, hocheffiziente Therapiemöglichkeiten und klare prognostische Parameter möglich werden, kann derzeit noch nicht eingeschätzt werden.